Geschichte Dom-Musikarchiv Linz

Miszellen zur Bestandsgeschichte des Dom-Musikarchivs in Linz

von Stefan Ikarus Kaiser (ÖAW-RISM Oberösterreich)

Das Musikarchiv des Linzer Doms zählt zu den größten Musiksammlungen im Bistum Linz (RISM-Sigel: A-LId). Seine Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte ist jedoch dermaßen komplex, dass einige Fragen aus gegenwärtiger Sicht mangels fehlender archivgeschichtlicher Informationen nicht mehr mit Sicherheit beantwortet werden können. Die verworrene Situation, die sich heutzutage in der Teilung des Gesamtbestandes in mehrere Archivkörper und mehr oder weniger zusammengehörende Teilbestände wiederspiegelt, hat ihre Ursache zum einen in der historisch gewachsenen Verbindung der Kirchenmusiktraditionen des Alten Doms und der Stadtpfarrkirche in Linz, zum anderen in der sukzessiven Einverleibung des ursprünglichen Archiv-Kernbestandes in das neu errichtete Musikarchiv des Neuen Doms.

Eine zusätzliche Erschwernis für die Rekonstruktion der Provenienz der Bestände brachte die de facto doppelte Archivführung in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahr­hunderts am Alten und am Neuen Dom mit sich, da Domkapellmeister Karl Waldeck (1841–1905) bis zu seinem Tode am Alten Dom tätig blieb und die vorhandenen Notenmaterialien weiterhin benutzte, während Johann Baptist Burgstaller (1840–1925) in seiner Eigenschaft als Domchor-Vikar gleichzeitig bereits am Neuen Dom musikalisch wirkte. Im Gegensatz zu Waldeck wollte Burgstaller eine cäcilianisch akzentuierte Kirchenmusiktradition etablieren.

Die eigentliche Zusammenführung der beiden Musikalienbestände dürfte erst unter dem nächsten Domkapellmeister Ignaz Gruber (1868–1937) erfolgt sein, der das Amt seines verstorbenen Onkels Karl Waldeck übernahm und am Neuen Dom fortführte. Das gesamte Musikarchiv war nun zu einer enormen Größe angewachsen und es gestalte sich in seiner Struktur keineswegs einheitlich: Etliche ältere Musikalien, die ursprünglich bereits mit einem Numerus currens in römischen Ziffern am unteren Rand der Notenblätter versehen und später teilweise in einzelne Tomi zusammengefasst worden waren, stammten ursprünglich nicht nur aus dem Alten Dom, sondern auch aus der Stadtpfarrkirche und möglicherweise sogar noch aus der früheren Jesuitenkirche. Größere Teilbestände, wie eine beachtliche Anzahl an Handschriften des ehemaligen Wilheringer Stiftsorganisten Adolf Festl (1826–1902) oder des in Atzbach  beheimateten Schreibers Anton Michael Denk sowie Schenkungen von Johann Evangelist Habert (1833–1896) aus Gmunden waren ebenso in das Archiv gelangt, während andere Musikalien fehlten, da sie zuvor im Alten Dom und parallel in der Stadtpfarrkirche benutzt worden waren, und daher im Musikarchiv der Stadtpfarrkirche verblieben waren (RISM-Sigel: A-LIsp). Außerdem ergaben sich durch weitere Institutionen, wie dem Linzer Dombau-Verein und dem Diözesan-Cäcilienverein in Linz, noch andere Provenienz- und Besitzverhältnisse diverser Notenmaterialien.

Im Jahre 1916 legte Ignaz Gruber ein umfangreiches Inventar des gesamten Bestandes unter Einführung eines neuen Standort-Signatursystems an. Dieses war kombiniert aus den Buchstaben A–H, die die jeweiligen Archiv-Schränke bezeichneten, sowie den Nummern der Schrankfächer gefolgt von denjenigen der Musikalien selbst. Dieses Inventar wurde vom nachfolgenden Domkapellmeister Franz Xaver Müller (1870–1948) weitergeführt und im Juni 1932 von Bischof Johannes Maria Gföllner persönlich geprüft, was nahelegt, dass der Archivbestand in diesem Jahr noch weitgehend geschlossen erhalten sein musste (nähere Hinweise vgl. Ikarus Kaiser, Das historische Notenarchiv des Linzer Doms, hg. Michael Jahn, Wien 2008, Vorwort S. 26).

Unter dem späteren Domkapellmeister Josef Kronsteiner (1910–1988) erfolgte schließlich die erste große Trennung des Archivs, entweder noch in der Zeit der letzten beiden Kriegsjahre gleich nach dessen Amtsantritt oder wenig später. Für die Entscheidung, welche Musikalien dem Altbestand zugewiesen wurden und welche weiterhin im Archiv des Domchors verbleiben sollten, waren dabei weniger die Kriterien des Alters und der physischen Beschaffenheit der Notenmaterialien, sondern vielmehr der Aspekt ihrer praktischen Verwendbarkeit im Hinblick auf das individuelle Repertoire der Dom-Kirchenmusik ausschlaggebend. Daher wurden Musikhandschriften und ältere Musikdrucke, meist mit alten Notenschlüsseln und vorwiegend noch aus der Zeit der Kirchenmusikpflege am Alten Dom, zwar in großer Menge, aber keineswegs zur Gänze aussortiert. Den so gewonnenen “neuen” Altbestand ließ Kronsteiner im Oberösterreichischen Landesmuseum deponieren. Diesbezügliche schriftliche Vereinbarungen wurden nicht getätigt oder sind in Verlust geraten.

Die solchermaßen vorgenommene Archivtrennung führte dazu, dass etliche Musikalien aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, die unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt eigentlich bereits als “historisch” zu bewerten gewesen wären, darunter etwa auch mehrere Werke von Anton Bruckner, Robert Führer, Ignaz Gruber, Franz Xaver Müller, Engelbert Lanz und Karl Waldeck, nach wie vor im Gebrauchsarchiv des Neuen Doms verblieben. Bei oberflächlicher Betrachtung wurde dennoch der Eindruck einer inhaltlichen Unterscheidung der Musikarchive des Alten und des Neuen Doms suggeriert.

Während das Gebrauchsarchiv musikwissenschaftlich kaum beachtet wurde, blieb der Altbestand im Landesmuseum nicht lange in Vergessenheit, da Othmar Wessely bereits im Jahre 1970 seine Existenz erwähnte und eine Reihe von Komponisten nannte, deren Werke in diesem Bestand überliefert wurden (Othmar Wessely, Von Mozart bis Bruckner. Wandlungen des Linzer Musiklebens von 1770–1870, in: Österreichische Musikzeitschrift Jg. 25 (1970), Heft 3, S. 151–165; zum alten Domchorbestand siehe S. 156). Wessely musste diesen Archivkörper also nicht nur gekannt, sondern auch bereits gesichtet haben. Eine zusätzliche Erweiterung dieses Altbestandes erfolgte durch die Ergänzung eines kleinen Teils des Nachlasses von Ignaz Gruber sowie eines weiteren Archivbestandes des Komponisten und Arztes Maximilian Gerhardinger (1891–1971). Dieser letztgenannte Teil mit etwa 150 Faszikeln umfasste nicht nur Gerhardingers eigene Kompositionen und diejenigen seines Vaters, sondern auch einige weitere kirchenmusikalische Notenmaterialien aus dem 19. Jahrhundert. Ob diese Erweiterung auf Initiative oder zumindest im Wissen von Joseph Kronsteiner erfolgte, kann aus heutiger Sicht nicht mehr geklärt werden.

Etwas eingehender beschäftigte sich der Linzer Musikforscher Franz Zamazal abermals mit dem mittlerweile in ein Außendepot des Landesmuseums überstellten Alt­bestand und legte im Jahr 1999 ein grobes Titelverzeichnis mehrerer überlieferter Kompositionen an, das nicht publiziert wurde.

Zwischenzeitlich hatte der neue Domkapellmeister Anton Reinthaler (geb. 1950) kurze Zeit nach seinem Amtsantritt im Jahr 1986 auch die übrigen älteren Notenmaterialien im Gebrauchsarchiv des Domchors aussortiert und dem Linzer Diözesanarchiv übergeben, wo sie faszikuliert und mittels eines Titelverzeichnisses überblicksartig als (zweites) Domchor-Archiv zusammengefasst wurden.

Im Zuge eines von der Oberösterreichischen Landesregierung finanzierten Projekts zur wissenschaftlichen Katalogisierung verschiedener oberösterreichischer Archiv­bestände begann ich im Jahr 2006 mit der wissenschaftlichen Erschließung des ersten Altbestandes aus dem Landesmuseum, der zu diesem Zweck in die Räumlichkeiten des Collegiums Petrinum überstellt worden war. Als Ergebnis meiner Forschungen entstand 2008 ein gedruckter Katalog dieses Notenbestandes mit insgesamt 367 Faszikeln, bestehend aus Hand- und Druckschriften aus dem 18. und 19. Jahrhundert (vgl. oben).

Kürzlich schloss ich die Online-Katalogisierung dieses ersten Bestandes für RISM im Rahmen des von der Landesregierung finanzierten und an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Projekts ab (opac.rism.info). In einem weiteren Schritt begann ich im Februar 2016 auch mit der Online-Katalogisierung des zweiten großen Domchor-Archivbestandes im Diözesanarchiv für RISM. Aufgrund der eindeutigen Provenienz entschied ich mich für die Beibehaltung des RISM-Sigels “A-LId”, wodurch die Zusammengehörigkeit beider Archivkörper klar zum Ausdruck gelangen soll. Aus diesem Grund setze ich auch das von mir eingeführte rein numerische Signatursystem beginnend mit der Zahl 400 fort, da der erste Bestand bis zur Nummer 367 reicht.

Erfreulicherweise gelangten dadurch bereits nach wenigen Wochen einige bisher kaum beachtete Bruckner-Quellen wieder zu Tage, darunter weiteres abschriftliches Stimmen­material zur Messe in e-Moll WAB 27 (A-LId 473 und 477-479, RISM id. no. 605002361 und 605002367-605002369) oder die Antiphon “Tota pulchra” WAB 46 in Abschriften und einer vermutlich autographen Partitur (A-LId 485, RISM id. no. 605002375). Die Bruckner-Forschung wird sich künftig mit der genaueren Auswertung dieser Quellen befassen, die nach der RISM-Erstaufnahme auch bereits für die Bruckner-Datenbank digitalisiert worden sind. Die übrigen Bruckner-Quellen im Tresor­bestand des Linzer Diözesanarchivs wurden unter dem Bibliothekssigel “A-LIda” in RISM aufgenommen.