von Erich Wolfgang Partsch (Artikel „Gesamtausgaben“ in Anton Bruckner. Ein Handbuch, Linz 1996, S. 175)
Die komplizierte, missverständliche und an Manipulationen reiche Überlieferungsgeschichte der Werke Bruckners hat Georg Göhler 1918 pointiert zur Forderung nach einer „einwandfreien, streng wissenschaftlichen Ausgabe“ veranlasst. 1927 hob die aus bereits bestehenden Bruckner-Vereinigungen neu gegründete Internationale Bruckner-Gesellschaft in Leipzig als „wichtigste Aufgabe“ die Herausgabe des Gesamtwerkes hervor. Mittels einer „peinlich genauen, traditionsgeleiteten Textkritik“ sollte der „Urtext” als „Grundlage für künftige praktische Ausgaben“ entstehen. Die Leitung wurde Robert Haas als Vertreter der Österreichischen Nationalbibliothek gemeinsam mit Alfred Orel übertragen, den Druck übernahm statt des vorgesehenen Verlages Breitkopf & Härtel Benno Filser in Augsburg. Das war der Beginn der ersten Gesamtausgabe Anton Bruckner. Sämtliche Werke (auch als Alte Gesamtausgabe [AGA] bezeichnet).
1930 erschien der erste Band (Nr. 15) mit der Missa solemnis in b-Moll und dem Requiem in d-Moll in Erstdrucken. 1932 erfolgte die Auflösung des Verlags, doch die in Arbeit befindliche Neunte Symphonie lag bereits so weit vor, dass Siegmund von Hausegger mit den Münchner Philharmonikern die berühmte Gegenüberstellung von Löwe-Fassung und Originalfassung durchführen konnte. Damit wurde eine heftige Diskussion um die Fassungen ausgelöst. Als Nachfolger wurde der Musikwissenschaftliche Verlag eigens für die weitere Herausgabe der Gesamtausgabe gegründet. Die Symphonien erschienen nun regelmäßig in Dirigier- und Studienpartituren, ergänzt durch sogenannte „Berichte“, die über die Quellenlage Auskunft geben. Nach dem Ausscheiden von Orel wurde um 1937 Leopold Nowak neuer Mitarbeiter von Haas.
Der weitere Weg der alten Gesamtausgabe erwies sich alsbald problematisch, weil sich Haas bei der Zweiten und später bei der Achten Symphonie für sogenannte Mischfassungen (Vermengungen verschiedener Arbeitsstadien) entschloss. 1944 – mit dem Erscheinen der Siebenten Symphonie und der Messe in f-Moll – endete kriegsbedingt die Arbeit von Haas.
(Bereitstellung der Abbildungen mit Erlaubnis des Musikwissenschaftlichen Verlags Wien)